DIE GESTEMPELTE SÜDGALLISCHE TERRA SIGILLATA AUS VECHTEN

Zusammenfassung von: M. Polak, De gestempelde Zuidgallische Terra Sigillata uit Vechten (ungedruckte Dissertation, Nijmegen 1995).

Inhaltsverzeichnis


Einleitung
1 Die römische Siedlung bei Vechten
2 Die südgallischen Produktionszentren der Terra Sigillata
3 Stempel, Punzen und Abdrücke
4 Die Datierung südgallischer Sigillatastempel
5 Herkunft und Datierung der südgallischen Terra Sigillata aus Vechten
6 Die in Vechten angetroffenen Sigillataformen und ihre Entwicklung
7 Die Produktionsorganisation
8 Katalog
9 Impressum

Einleitung

Ein kleiner Geländesporn südwestlich der Ortschaft Vechten (Gemeinde Bunnik, Utrecht, NL) markiert die Stelle, wo sich in den ersten Jahrzehnten unserer Zeitrechnung eine umfangreiche römische Siedlung befand. Zur Zeit des Kaisers Augustus wurde hier ein Stützpunkt für die Heeresmacht angelegt, die Germanien dem römischen Reich erobern sollte. Mit der Aufgabe der Okkupationspläne im Laufe des 1. Jahrhunderts n. Chr. muß sich auch die Funktion der Anlage bei Vechten geändert haben. Sie behielt aber eine beachtliche Bedeutung. Bis zur Räumung des westlichen Abschnitts des niedergermanischen Limes in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts blieb Vechten eines der wichtigsten Auxiliarkastelle in diesem Bereich.

In den Jahren 1867-1870 wurden beim Bau eines Forts an der Stelle der römischen Siedlung u.a. tausende Fragmente Terra Sigillata angetroffen. Zwar fanden die meisten Sigillatastempel nach und nach Eingang in die großen Standardwerke über Terra Sigillata, die im Laufe des 20. Jahrhunderts erschienen, doch fehlt bis heute eine detaillierte Gesamtpublikation der Vechtener Sigillata.

Die über 5000 Sigillatastempel aus Vechten, die sich in der Sammlung des Rijksmuseum van Oudheden in Leiden befinden, wurden 1984 neu geordnet. Dabei stellte sich heraus, daß ungefähr drei Viertel der Stempel aus Südgallien stammt, insbesondere aus La Graufesenque, der Rest aus weiteren Produktionszentren Galliens und aus Italien. In dieser Studie wurden vor allem die südgallischen Gefäße näher untersucht; dabei sind auch die Exemplare aus der Sammlung des Provinciaal Utrechts Genootschap van Kunsten en Wetenschappen und die 1970 bei Grabungen des Rijksdienst voor het Oudheidkundig Bodemonderzoek gefundenen miteinbezogen worden.

In Vechten traten insgesamt 4797 südgallische Stempel zutage. Dieses von einem einzigen Fundort stammende Material ist so außergewöhnlich groß und variantenreich, daß das Studium dieser Sammlung unseren Kenntnisstand der südgallischen Terra Sigillata, speziell der aus La Graufesenque, erheblich erweitert.

1 Die römische Siedlung bei Vechten

Daß der Boden bei Vechten die Überreste eines römischen Lagers beherbergt, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Im 16. Jahrhundert lockte diese Siedlung bereits viele Altertumssammler an. Seit 1829 wurden hier auch Ausgrabungen durchgeführt, mit dem Ziel, die genaue Lage der Anlagen festzustellen. Mit der Zeit hat sich gezeigt, daß hier sechs Lager aufeinander folgten. Nur von zwei Kastellen ist die Größe bekannt.

Die römische Siedlung lag auf dem südlichen Ufer eines Rheinmäanders, gleich oberhalb der Stelle, wo damals die Vecht nach Norden abzweigte. Diese Flußschleife scheint bereits im Laufe des 1. Jahrhunderts durch den heutigen Kromme Rijn abgeschnitten worden zu sein, und ist dann allmählich verlandet, bis wohl um 200 n. Chr. das Flußbett vollständig verfüllt war.

Vom ältesten bekannten Lager (Periode Ia) ist bisher nur die Ostfront angeschnitten worden. Diese besaß eine Holz-Erde-Mauer mit Holztürmen und wurde von nur einem Graben geschützt. Der nördliche Teil der Anlage scheint vom Rhein weggespült worden zu sein. Dies könnte der Grund sein, warum die drei Lager, die wahrscheinlich als ihre Nachfolger betrachtet werden dürfen (Periode Ib-d), weiter südlich gebaut worden sind und eine andere Orientierung haben. Auch diese Anlagen waren von einem einzelnen Graben und einer Holz-Erde-Mauer umgeben.

Das Kastell der Periode II ist beim Bau des jüngsten Lagers (Periode III) fast völlig vernichtet worden. Beide Kastelle liegen etwa hundert Meter nördlicher als ihre Vorgänger, was mit der allmählichen Verfüllung des Rheinbettes zusammenhängen könnte. Sie waren fast gleich groß: ca. 2,5 Ha. Vom Lager der 2. Periode war nur ein Teil des Grabens und der Holz-Erde-Mauer noch gut zu erkennen. Das Kastell der 3. Periode besaß eine Umwehrung aus Stein, die mit steinernen Eck­ und Zwischentürmen verstärkt war. Die wichtigsten Gebäude dieses Lagers waren ebenfalls in Stein erbaut.

Die absolute Chronologie der Vechtener Anlagen steht noch nicht fest. Nach dem Fundmaterial zu urteilen, ist das älteste Lager im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung gebaut worden. Die Anlagen aus Periode Ib­d gehören vielleicht in die zweite Hälfte des 1. und an den Anfang des 2. Jahrhunderts. Das Kastell der Periode II könnte im letzten Viertel des 2. Jahrhunderts durch das jüngste ersetzt worden sein, das wohl wie die anderen Lager am Niederrhein kurz nach der Mitte des 3. Jahrhunderts aufgegeben wurde.

Wegen der hölzernen Konstruktionen, die sich entlang des Südufers des römischen Rheins fanden, wurde Vechten lange Zeit als eine wichtige Flottenstation, wahrscheinlich sogar als Ausgangsbasis für die Flottenexpeditionen von Drusus und Germanicus angesehen. Daß das erste Vechtener Lager in Zusammenhang mit der Okkupation Germaniens gebaut worden ist, steht auf Grund der Datierung der ältesten Funde und der geographischen Lage bei der Vecht-Abzweigung kaum zur Diskussion. Inzwischen hat sich aber herausgestellt, daß die Holzkonstruktionen entlang des Flußbettes teilweise aus dem 2. Jahrhundert stammen, und daß auch andere Lager am Niederrhein derartige `Häfen' aufweisen. Ob Vechten eine bedeutende Flottenstation gewesen ist, steht daher nicht fest. Sicher ist wohl, daß die hier gefundenen Anlagen eine wichtige Funktion hatten. Die Kastelle der 2. und 3. Periode gehörten zu den größten in Niedergermanien, und die dort geborgenen Inschriften beweisen, daß höhere Militärs und Beamte Fectio, das römische Vechten, besucht haben.

Vom Lagerdorf, das sich an der Ost­ und Westseite der Kastelle ausgedehnt haben muß, sind bisher nur wenige zusammenhängende Befunde aufgedeckt worden. Die Gräber der Soldaten und der Vicusbewohner scheinen vor allem an der Stelle des heutigen Forts Vechten gelegen zu haben. Beim Bau des Forts sollen an die hundert Skelette und unzählige Reste von Leichenbrand angetroffen worden sein. Nur ein kleiner Bruchteil davon wurde aufbewahrt.

2 Die südgallischen Produktionszentren der Terra Sigillata

Terra Sigillata läßt sich als eine Keramikgattung aus rotem Ton mit einem gesinterten, d.h. teilweise verglasten Überzug beschreiben. Ein derartiges Produkt kann nur in einem Muffelofen gebrannt werden, das ist ein Ofen, dessen Brenn­ und Heizraum völlig von einander getrennt sind, so daß die Gefäße mit den Flammen und Brenngasen nicht in Berührung kommen.

In verschiedenen Produktionszentren hat man versucht, Sigillaten in normalen Zweikammeröfen herzustellen. Das Resultat dieser Versuche, rote oder rötliche Keramik mit einem nicht-gesinterten Überzug, kann man am besten als Protosigillata oder Sigillata-Imitation bezeichnen.

Die südgallischen Produktionszentren der Terra Sigillata lassen sich auf Grund ihrer gegenseitigen Beziehungen in vier Gruppen einteilen, die zugleich regionale Einheiten bilden. Die südliche Gruppe umfaßt zwei Zentren: Bram und Narbonne. Hier stellte man im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts v. Chr. nur Sigillata-Imitationen her. Sie wurden ausschließlich in der Region abgesetzt. Es ist wohl vor allem auf die unzureichende Qualität des in der unmittelbaren Umgebung anstehenden Tones zurückzuführen, daß die Produktion echter Sigillata hier nie in Gang gekommen ist.

Die westliche Gruppe umfaßt vier Zentren: Montans, Crambade, Valéry und Saint-Sauveur. Montans ist der erfolgreichste Töpferort gewesen; nach einer kurzen experimentellen Phase stellte man in diesem Zentrum ab Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. Sigillaten her, die vor allem in Aquitanien Verbreitung fanden. Die ältesten Gefäße zeigen noch den Einfluß von Sigillataproduzenten aus Italien, vor allem aus Puteoli, aber im zweiten Viertel des 1. Jahrhunderts haben die Fabrikanten in Montans sich allmählich von der italischen Tradition gelöst. Die claudisch-neronische Zeit kann künstlerisch und wirtschaftlich als Blütezeit dieses Produktionszentrums gelten. Ab Ende des 1. Jahrhunderts hat der Sigillata-Absatz aus Montans anscheinend stark abgenommen.

Die Töpfereien in Crambade scheinen nur im zweiten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts in Betrieb gewesen zu sein. Die hier hergestellten Sigillaten unterscheiden sich in keiner Hinsicht von denen aus Montans, so daß Crambade wohl als eine Filiale betrachtet werden darf. Dies gilt gleichfalls für das Produktionszentrum von Valéry, wo in den Jahren 40­60 n. Chr. Sigillaten gefertigt wurden. Die ziemlich ungünstige Lage läßt vermuten, daß das Zentrum auf Anregung des Besitzers einer benachbarten Villa eingerichtet worden ist. In Saint-Sauveur scheint nur Logirnus eine Töpferei betrieben zu haben, und zwar in neronischer Zeit. Es ist möglich, daß dieser Fabrikant aus La Graufesenque durch die Errichtung eines Tochterunternehmens in Saint-Sauveur einen Marktanteil von Montans eroberen wollte. Dieser Versuch scheint jedoch wenig erfolgreich gewesen zu sein, vielleicht weil die Nachfrage nach Sigillaten in Aquitanien damals schon stagnierte.

Der Mittelpunkt der östlichen Gruppe war La Graufesenque. Dieses wichtigste Produktionszentrum in Südgallien bildet den Kern dieses Buches. In den letzten zwei Jahrzehnten vor unserer Zeitrechnung begann man hier, für den regionalen Bedarf Protosigillata herzustellen. Kurze Zeit später, in den ersten Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr., stieg man dann auf die Anfertigung echter Sigillata nach italischem Vorbild um. Unter Tiberius und Claudius bekamen die Produkte aus La Graufesenque ein völlig eigenes Gesicht; der Markt wurde auf den ganzen Nordwesten des römischen Imperiums ausgedehnt. Das dritte Viertel des 1. Jahrhunderts bedeutete für La Graufesenque eine Periode großer Veränderungen. In dieser Zeit wurde vermutlich das ganze Produktionszentrum umgebaut, und die Qualität der Sigillata ließ stark nach. Diese letzte Entwicklung hat sich in der flavischen Zeit fortgesetzt, wahrscheinlich weil das Produktionstempo beträchtlich erhöht wurde. In den Jahren 100­120 n. Chr. brach der Sigillata-Export aus La Graufesenque dann zusammen.

Von den übrigen Zentren der östlichen Gruppe waren die von Aspiran und Jonquières-Saint-Saturnin am unbedeutendsten. Hier stellte man nur in der Zeit zwischen ca. 20 und 45 n. Chr. Sigillaten her. Sie wurden lediglich in einem begrenzten Gebiet verkauft. Genauso wie im Fall von Valéry könnte die Errichtung dieser Töpfereien von lokalen Großgrundbesitzern angeregt worden sein. Das Produktionszentrum von Le Rozier darf wohl als ein Tochterunternehmen einer Anzahl Fabrikanten aus La Graufesenque betrachtet werden. Die Sigillaten, die dort zwischen 55 und 80 n. Chr. hergestellt wurden, können meistens von denen aus La Graufesenque nicht unterschieden werden. Deshalb läßt sich über die Bedeutung dieses kleinen Töpferzentrums nichts sagen. Im letzten Zentrum der östlichen Gruppe, Banassac, hat die Produktion nicht unter Nero oder Vespasian angefangen, wie bis vor kurzem allgemein angenommen wurde, sondern erst in den ersten Jahren des 2. Jahrhunderts. Zu den frühesten Fabrikanten, die in Banassac Sigillaten hergestellt haben, gehören einige Töpfer, die vorher in La Graufesenque tätig waren. Die Produkte aus Banassac wurden vor allem in Süddeutschland und im Donaugebiet verkauft, bis etwa um die Mitte des 2. Jahrhunderts.

Die nördliche Gruppe umfaßt zwei Töpferzentren, die anscheinend beide in den Jahren 30­100 n. Chr. in Betrieb gewesen sind. Carrade, das westlichere Zentrum, ist vor allem von Montans aus beeinflußt worden. Die Produkte dieser Töpferei wurden größtenteils in der Region abgesetzt, und zwar im Norden und Westen. Die Sigillaten aus dem anderen Zentrum, Espalion, zeigen mehr Übereinstimmungen mit denen aus La Graufesenque. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt im Norden Aquitaniens. Vereinzelte Stücke aus diesen beiden Töpfereien sind auch weiter verhandelt worden; so trat in Vechten eine Drag. 37 aus Espalion zutage.

Im Gegensatz zur bisherigen Ansicht scheint der Beginn der Herstellung von echter Sigillata in Südgallien nicht die Folge einer Produktionsverlegung von Lyon-La Muette gewesen zu sein. Dort wurde wahrscheinlich noch bis etwa 15/20 n. Chr. Sigillata hergestellt, als die Fabrikation in Montans und La Graufesenque schon angelaufen war. Wahrscheinlich wurde die `Sigillatatechnik' direkt von Italien aus in Südgallien eingeführt, vielleicht als Reaktion auf den Erfolg der Sigillata-Imitationen, die in den letzten Jahrzehnten vor unserer Zeitrechnung in dieser Gegend hergestellt worden sind.

Der Untergang des wichtigsten Produktionszentrums, La Graufesenque, wird im allgemeinen mit der anhaltenden Nachfrage nach Sigillaten erklärt. Diese soll zu einem Qualitätsrückgang geführt haben, weshalb sich die Abnehmer schließlich von den Produkten aus La Graufesenque abgewendet hätten und es zur Einrichtung neuer Töpferzentren näher an den wichtigen Märkten im Nordwesten kam. Bei dem Niedergang der Töpfereien in La Graufesenque müssen jedoch andere Faktoren mitgespielt haben, denn die Qualität ihrer Sigillaten nahm weiter ab, auch als der Absatz in den nordwestlichen Provinzen bereits stagnierte, und außerdem fingen die meisten mittel­ und ostgallischen Töpfereien erst an zu exportieren, als Produkte aus La Graufesenque kaum noch auf dem Markt waren. Der wichtigste Grund für diesen Produktionseinbruch muß wohl beim Handel gesucht werden. Es ist möglich, daß durch die Romanisierung der eroberten Gebiete im Nordwesten mit der dazugehörigen Einführung extensiver Landwirtschaft der Zufluß von Massengüter wie Wein und Getreide allmählich abnahm. Deshalb könnte es schwieriger bzw. teurer geworden sein, Sigillaten aus Südgallien in die nordwestlichen Provinzen zu transportieren. Dies mag dazu geführt haben, daß die Fabrikanten in La Graufesenque die Herstellungskosten senken mußten. Das konnte durch verkürzte Produktionszeiten, auf Kosten der Qualität, Spezialisierung bzw. Vergrößerung der Betriebe erreicht werden. Die Verlegung der Produktion von La Graufesenque nach Banassac am Anfang des 2. Jahrhunderts könnte ein letzter Versuch gewesen sein, den Rückgang zu stoppen und über einen anderen Transportweg Zugang zu einem Teil der Exportmärkte zu erhalten.

3 Stempel, Punzen und Abdrücke

Das Wort `Stempel' wird nicht nur für einen in den Ton eingedrückten Text oder eine Darstellung angewendet, sondern auch für das Instrument mit denen dies ausgeführt wurde. Um Verwirrung zu vermeiden, wird in diesem Buch das Gerät, mit dem die Töpfer ihre Produkte markiert haben, oft mit dem Wort `Punze' (niederländisch: patrijs) bezeichnet, und der von diesem Instrument stammende Text mit dem Wort `Abdruck' (niederländisch: afdruk).

In den meisten Sigillata-Produktionszentren haben die Fabrikanten Punzen benutzt, die aus Sigillatascherben hergestellt worden sind. Der Text wurde dabei auf einer der Bruchkanten angebracht. In La Graufesenque dagegen sind bisher nur Punzen aus Bein gefunden worden.

Wie lange die Punzen gebraucht wurden, ist nicht bekannt. Auf vielen Abdrücken ist erkennbar, daß die Ränder der Stempelflächen abgenutzt waren, und daß die eingetieften Buchstaben mit Ton zugesetzt waren, oder bei der Reinigung beschädigt worden sind. Wenn eine Punze zerbrochen war, hat man sie oft weiterbenutzt, sogar wenn der Text unverständlich geworden war.

Die Abdrücke, die mit den Punzen hergestellt wurden, bezeichnet man durchweg als `Namenstempel' oder `Töpferstempel'. Diese Worte sind nicht korrekt, da viele Abdrücke nicht den Namen eines Töpfers wiedergeben, sondern Aneinanderreihungen von Kreuzchen und Strichelchen ­ sogenannte `Schriftimitationen' oder `Analphabetenstempel'. Als allgemeine Bezeichnung sollte man deshalb dem neutraleren Wort `Bodenstempel' in vielen Fällen den Vorzug geben.

Bei den meisten Namenstempeln ­ in der strikten Bedeutung des Wortes ­ aus La Graufesenque wird der Name durch (eine Abkürzung von) officina begleitet. Seltener sind Exemplare, bei denen auf den Namen eine Abkürzung von fecit, manus oder figuli folgt. Es gibt auch zahlreiche Stempel, bei denen der Name allein steht ­ im Nominativ, Genitiv oder stark abgekürzt.

Nach der traditionellen Auffassung dienten die Stempel zur Leistungskontrolle der einzelnen Töpfer in einer Werkstatt und zur Produktkennzeichnung einzelner Lieferanten bei der gemeinsamen Beschickung eines Ofens. Gegen diese Theorie ist einzuwenden, daß die Sigillaten auf der Innenseite gestempelt und umgekehrt gestapelt wurden. Die Stempel waren also während des Produktionsvorganges meistens nicht sichtbar; um die Gefäße einer bestimmten Werkstatt zu markieren, wurde der Name des Lieferanten in das oberste Stück eines Stapels eingeritzt. Ein weiteres Argument gegen diese Erklärung ist die Tatsache, daß bei weitem nicht alle Formen gestempelt wurden. Dies spricht zugleich gegen die Hypothese, daß die Stempel als Qualitätsgarantie für die Abnehmer dienten. Weil in La Graufesenque die neu entwickelten Formen meistens nicht markiert wurden, hatten die Bodenstempel in diesem Produktionszentrum vielleicht keine Bedeutung mehr, sondern bildeten nur eine der vielen aus Italien übernommenen Traditionen.

4 Die Datierung südgallischer Sigillatastempel

Terra Sigillata gilt als eine der am besten zu datierenden Fundgattungen der Römerzeit. Diese Einschätzung ist sicher richtig, bedeutet aber noch nicht, daß die Chronologie der Sigillata auf einem soliden Fundament ruht.

Das chronologische Gerüst, daß der Datierung von Sigillata zugrunde liegt, basiert auf Gefäßen, die außerhalb der Produktionszentren gefunden worden sind. Wie alt sie waren, als sie in den Boden gelangten, kann nur geschätzt werden. Reliefschüsseln Drag. 37 aus La Graufesenque blieben vielleicht mindestens zehn Jahren intakt, aber ob daß auch für andere Formen und für Gefäße aus anderen Produktionszentren gilt, ist sehr fraglich. Wenn man von der Datierung eines Sigillatagefäßes spricht, ist damit also normalerweise nicht die Periode, in der es hergestellt wurde, sondern die Zeit, in der es in den Boden geraten ist, gemeint.

Bei der Einschätzung von Sigillata als Datierungsinstrument sollte man bedenken, daß viele Fundorte, die das Fundament der Sigillatachronologie bilden, ihrerseits mit Hilfe der dort aufgefundenen Sigillaten datiert wurden. Nur bei einigen dieser sogenannten `datierten Fundorte' wird das Alter durch andere Materialgruppen wie Münzen, Inschriften oder literarische Quellen bestätigt. Die Verwendbarkeit der übrigen Fundorte ist sehr unterschiedlich. Der Abfall aus einer bestimmten Periode einer Siedlung mit einer langen Geschichte wird oft mit Material aus einer älteren Phase vermischt sein. An Plätzen, die nur kurzfristig bewohnt gewesen sind, ist dagegen meistens so wenig Fundmaterial geborgen worden, daß das Fehlen einer bestimmten Fundgattung rein zufällig ist und überhaupt nicht mit dem Alter des Ortes zusammenhangen muß.

Zwei Gruppen datierter Fundkomplexe, die besondere Aufmerksamkeit verdienen, sind Depots und Gräber. In diesem Buch werden mit Depots geschlossene Fundgruppen bezeichnet, die in kürzester Zeit zustandegekommen sind. Die bekanntesten Beispiele sind wahrscheinlich die beiden Pottery Shops in Colchester sowie die noch unausgepackte Kiste mit Keramik, die beim Ausbruch des Vesuvs in Pompeji verschüttet worden ist. Die Gefäße dieser Depots sind im allgemeinen schneller als sonst üblich in den Boden gelangt, weshalb sie nur mit Vorsicht als Vergleichsmaterial herangezogen werden dürfen.

Gräber können als kleine Depots betrachtet werden und sind als solche sehr wertvoll, vor allem wenn sie außer Sigillaten auch Münzen beinhalteten. Von besonderer Bedeutung für die Datierung südgallischer Sigillata sind außerdem Gräber, die daneben noch Gefäße mittel­ und ostgallischer Herkunft enthielten, weil diese wohl frühestens zu Anfang des 2. Jahrhunderts angelegt worden sind. Man sollte aber nicht aus den Augen verlieren, daß Sigillaten, die in Gräbern gefunden wurden, nicht neu gewesen sein müssen, als die Toten beigesetzt wurden.

Außer dem Fundzusammenhang gibt es noch weitere Einzelheiten, die auf das Alter eines Sigillatagefäßes hinweisen können, wie z.B. die Form und die Maße, die Farbe und die Beschaffenheit des Tones und des Überzuges sowie besondere Merkmale von Form oder Text des Stempels.

Bei den in diesem Buch genannten Datierungen handelt es sich um `Abfalldatierungen'. Sie gelten für die Zeit, in der die betreffenden Gefäße bei normalen Verhältnissen in den Boden gelangt sein könnten. Um eine endlose Aufeinanderfolge weitläufiger Formulierungen zu vermeiden, ist aber an dem faktisch unrichtigen Brauch festgehalten worden, die Produktionsphase der Töpfer mit der Zeit, in der ihre Produkte weggeworfen wurden, gleichzusetzen.

Da sich unter den zahlreichen Funden aus dem 9 n. Chr. verlassenen Legionslager von Haltern keine Gefäße aus La Graufesenque befinden, darf man annehmen, daß in dieser Zeit noch keine nennenswerten Sigillatamengen aus diesem Produktionszentrum im Nordwesten des Römerreiches eingetroffen waren. Die ältesten Fundkomplexe mit Sigillaten aus La Graufesenque stellen die wahrscheinlich 16 n. Chr. geräumten Militäranlagen in Augsburg-Oberhausen und Friedberg sowie ein kleines Depot in Mainz dar, das vermutlich in frühtiberischer Zeit entstanden ist. Wenn Sigillata wirklich eine Lebensdauer von mindestens zehn Jahren hatte, könnte der Export von Sigillaten aus La Graufesenque also in den ersten Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. angelaufen sein.

Aus dem Fundmaterial der Kastelle in Bendorf, Heddernheim und Hofheim kann abgeleitet werden, daß die Produkte aus La Graufesenque zwischen 100 und 120 n. Chr. allmählich von den entfernten Märkten verschwanden. Man hat aber noch Sigillaten aus diesem Töpferzentrum in Kastellen entlang der Hadriansmauer gefunden sowie in Gräbern, die hadrianische Münzen enthielten. Daß es sich hier nicht um ungewöhnlich lang benutzte Gefäße handeln muß, zeigen Reliefschüsseln der Form Drag. 37 aus Blain und Strasbourg mit Darstellungen, die sich auf die Siege Trajans über die Daker und die Parther beziehen. Diese können frühestens 116 n. Chr. hergestellt worden sein.

5 Herkunft und Datierung der südgallischen Terra Sigillata aus Vechten

Die Sammlungen des Rijksmuseum van Oudheden und des Provinciaal Utrechts Genootschap van Kunsten en Wetenschappen umfassen mehr als zehntausend Stück Terra Sigillata aus Vechten, von denen über siebentausend gestempelt sind. Der größte Teil des Materials ­ mindestens achtzig Prozent ­ ist beim Bau des Forts Vechten in den Jahren 1867­1870 gefunden worden.

Unter den Funden aus Vechten befinden sich 762 gestempelte und höchstens 25 reliefverzierte Gefäße, die allem Anschein nach in Italien ­ vor allem Pisa ­ und Lyon hergestellt worden sind. Fast die Hälfte der Exemplare mit Bodenstempel stammen aus den Töpfereien des Ateius und seiner Sklaven oder Freigelassenen. Die Vechtener Arretina zeigt große Übereinstimmung mit dem Fundmaterial des Halterner Legionslagers, das im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung besetzt gewesen ist, enthält aber auch jüngere Gefäße.

Die südgallische Terra Sigillata aus Vechten umfaßt 4797 gestempelte und mehr als tausend reliefverzierte Stücke. Von den 4797 Stempeln konnten 4013 bestimmt werden. Unter den restlichen Exemplaren befinden sich 102 fragmentierte Namenstempel; die übrigen sind sogenannte Schriftimitationen und andere unbestimmbare Stempel.

Weitaus die meisten südgallischen Gefäße aus Vechten sind in La Graufesenque hergestellt worden. Von den 4013 Exemplaren mit Namenstempeln stammen höchstens neun Prozent aus Le Rozier. Maximal fünf Prozent könnten in Espalion hergestellt worden sein, aber die chemische Analyse hat ergeben, daß zumindest eines der in Betracht kommenden Gefäße wahrscheinlich aus La Graufesenque stammt; der Anteil der Produkte aus Espalion wird deshalb wohl sehr gering sein. Auch der Prozentsatz der Stücke aus Banassac scheint äußerst klein und deswegen unwesentlich zu sein. Zwei Exemplare, die auf Grund ihrer Stempel in Banassac hergestellt worden sein könnten, dürfen nach der chemischen Untersuchung nicht diesem Produktionszentrum zugewiesen werden.

Die Zusammensetzung der südgallischen Terra Sigillata aus Vechten scheint für das ganze Niederrheingebiet repräsentativ zu sein. Die in dieser Gegend angetroffenen südgallischen Gefäße werden in der Mehrzahl in La Graufesenque hergestellt worden sein. Nur ein kleiner Prozentsatz stammt vielleicht aus dem Filialbetrieb in Le Rozier. Stücke aus Espalion und Banassac sind so selten, daß man sie als die Ausnahmen betrachten kann, die die Regel bestätigen.

Die 4013 bestimmbaren Namenstempel aus Vechten stammen von etwa 275 verschiedenen Töpfern. Die sieben Hersteller, die am häufigsten auftreten, sind Vitalis ii, Aquitanus, Bassus i, Calvus, Primus, Patricius und Iucundus. Auch andernorts im Rheinland gehören sie zu den am besten vertretenen Produzenten.

Die südgallischen Stempel aus Vechten sind auf Grund der in Kapitel 4 beschriebenen Überlegungen in die Jahren 10­120 n. Chr. datiert worden. Fast drei Viertel stammt aus der Periode 50­90 n. Chr. Die ungleiche Verteilung, die daraus abgelesen werden kann, darf nicht ohne weiteres mit Belieferungsschwankungen erklärt werden, da sie auch auf andere Ursachen zurückgeführt werden könnte.

Die in diesem Buch vorgelegten Stempel geben sicher kein völlständiges Bild der Sigillata, die damals in Vechten vorhanden war; sicherlich sind viel mehr Gefäße verloren gegangen. Weil die meisten aber beim Bau des Forts Vechten gefunden wurden, wobei man einen regelrechten Querschnitt durch die römischen Siedlung gemacht zu haben scheint, dürfte es sich um eine ziemlich repräsentative Stichprobe handeln. Die ungleichmäßige Verteilung ist deshalb sicher nicht ausschließlich eine Folge der Forschungsgeschichte.

Von größerer Bedeutung ist wahrscheinlich die Tatsache, daß nur für den Zeitraum von 40­80 n. Chr. externe Datierungen vorhanden sind; ein beträchtlicher Teil der Stempel könnte dadurch zu früh oder zu spät datiert worden sein. Die Konzentration um 70 n.Chr. scheint aber nicht durch den Bataveraufstand 69/70 n. Chr. verursacht worden zu sein. Von den 4797 gestempelten Gefäßen sind nur 110 Stück verbrannt, und die meisten von ihnen gelangten erst nach dem Jahre 70 in den Boden.

Insgesamt betrachtet scheint das starke Überwiegen der claudisch-frühflavischen Sigillata in Vechten mit der tatsächlichen damaligen Verhältnissen übereinzustimmen. Da von mehreren anderen Fundorten eine gleichartige Verteilung bekannt ist, wird dies wohl weniger mit der Vechtener Siedlungsgeschichte zusammenzuhängen als doch mit Belieferungsschwankungen der Sigillata.

>Von der mittel­ und ostgallischen Sigillata aus Vechten kann zur Zeit nur ein unvollständiges Bild skizziert werden, weil die Inventarisation dieses Materials noch nicht abgeschlossen ist. Bisher wurden mindestens 1659 Gefäße registriert. Es gibt wahrscheinlich um die tausend reliefverzierte Fragmente.

Die präzise Herkunft der mittel­ und ostgallischen Sigillaten ist schwer zu ermitteln, da in verschiedenen Töpfereien Fabrikanten gleichen Namens gearbeitet haben. Außerdem sind zu wenig Publikationen mit Abbildungen brauchbarer Qualität vorhanden. Manchmal kann aber die Tonqualität Auskunft geben.

Wenn die 1259 bestimmbaren Stempel aus dem Rijksmuseum van Oudheden für die ganze Sammlung repräsentativ sein soltten, würden etwa zwanzig Prozent mittelgallischer und achtzig Prozent ostgallischer Herkunft sein. Die Hälfte der ostgallischen Gefäße wurde in Chémery-Faulquemont und La Madeleine hergestellt.

Den Stempeln sind über 250 verschiedene Töpfer zuzuordnen. Mehr als die Hälfte stammt aber von nur 23 Fabrikanten. Bei der mittel­ und ostgallischen Ware gibt es ungefähr fünf Stempel pro Töpfer. Bei der südgallischen Sigillata sind es etwa fünfzehn Exemplare pro Hersteller.

Über die Datierung der mittel­ und ostgallischen Produkte können im Moment nur einige allgemeine Aussagen getroffen werden. Auf Grund der Gefäßprovenienz darf man annehmen, daß etwa 25% aus dem ersten Viertel des 2. Jahrhunderts stammen; 40% datieren in die Jahre 125­160 n. Chr.

Die große Menge an Terra Sigillata in Vechten hat zu der Annahme geführt, daß sich dort ein Stapelplatz für diese Ware befunden hat. Gegen diese Auffassung können aber schwerwiegende Argumente angeführt werden. Erstens kam hier auch eine große Menge von Arretina ans Licht, was nicht mit einem Stapelplatz erklärt werden kann, da die hier stationierten Truppen zur Zeit des Augustus die einzigen Abnehmer bildeten. Wenn Vechten ein Stapelplatz für Sigillata gewesen wäre, hätte man hier außerdem große Mengen unbenutzter und verbrannter Gefäße antreffen müssen. Die während des Transports zerbrochenen Stücke hätte man beim Umladen wohl weggeworfen. Die vermuteten Geschirrlager in der Siedlung müßten im Laufe der Zeit dann auch wiederholt durch Brände vernichtet worden sein wie die restliche Siedlung. Aber wie bereits oben gesagt ist der Prozentsatz verbrannter Sigillaten klein. Die genaue Anzahl unbenutzter Gefäße ist nicht sicher festzustellen.

Es ist deshalb wohl kaum anzunehmen, daß Vechten ein Stapelplatz für Sigillata gewesen ist. Die große Menge erhaltener Terra Sigillata dürfte vielmehr auf die Größe der Siedlung und die relativ guten Erhaltungsbedingungen zurückgehen. Wenn man die beim Bau des Forts Vechten gefundenen Stempel außer Betracht ließe, blieben nur ungefähr zwölf­ bis fünfzehnhundert Exemplare übrig. Für eine ziemlich große und gut erhaltene militärische Siedlung ist das keine außergewöhnlich große Anzahl.

6 Die in Vechten angetroffenen Sigillataformen und ihre Entwicklung

Die Sammlung südgallischer Terra Sigillata aus Vechten enthält fast alle gestempelten Typen, die in La Graufesenque produziert worden sind. Da sie außerdem den gesamten Zeitraum umfaßt, während dem Sigillaten aus diesem Produktionszentrum nach Nordwesten exportiert worden sind, bildet sie eine solide Basis, um die Entwicklung und Standardisierung der gestempelten Sigillataformen zu untersuchen.

Eine gute Typologie der südgallischen Sigillata fehlt noch immer. Die Abhandlungen von H. Dragendorff und E. Ritterling, auf die in den meisten Fällen zurückgegriffen wird, sind in vieler Hinsicht unzureichend, und die Studie von F. Oswald und T.D. Pryce hat im nachhinein ebensoviele Fragen aufgeworfen, wie sie beantwortet hat.

>Die in Vechten gefundenen gestempelten Gefäße verteilen sich auf vier Grundformen: Teller (1505 Stück), Platten (162), Tassen (2748) und Schüsseln (382). Unter den Tellern stellt die Form Drag. 18 den am besten vertretenen Typus dar (737), unter den Platten die Form Drag. 18R (42) und unter den Tassen die Form Drag. 27(g) (2046); die einzige gestempelte Schüsselform ist die reliefverzierte Form Drag. 29.

Der Anteil der verschiedenen Grundformen an der Gesamtzahl der gestempelten Gefäße aus Vechten hat sich im Laufe der Zeit verändert. Der Prozentsatz der Schüsseln ist während der flavischen Zeit stark zurückgegangen, weil die Form Drag. 29 in diesem Zeitraum durch die ungestempelte Schüssel Drag. 37 ersetzt worden ist. Die Anzahl der Platten hat zwar allmählich zugenommen, blieb aber stets deutlich hinter der Menge der Teller zurück. Da der Prozentsatz der Tassen mit der Zeit abnahm, hat sich vor allem das Verhältnis von Tellern zu Tassen im Laufe des 1. Jahrhunderts stark geändert.

Auch der Typenreichtum innerhalb der Grundformen blieb nicht konstant. Um die Mitte des 1. Jahrhunderts wurden die meisten Teller­, Platten­ und Tassentypen aus der Produktion genommen, so daß während der flavischen Zeit nur noch drei gestempelte Typen in großer Menge in Umlauf waren: Drag. 18, Drag. 18R und Drag. 27(g).

Der Begriff `Service' hat in der Forschung über südgallische Sigillaten immer eine unbedeutendere Rolle gespielt als bei der Arretina. Vielleicht liegt dies daran, daß die Anzahl der Typen, die auf Grund ihrer äußeren Ähnlichkeit als Teile eines Services gelten, wesentlich geringer ist. Gewisse Formen werden nur deshalb mit einander verknüpft, weil sie eine gleichartige Entwicklung durchgemacht haben, wie z.B. Drag. 15/17 und Drag. 24/25. Das Mengenverhältnis zwischen Tellern und Tassen aus Vechten mahnt in diesem Zusammenhang aber zu Vorsicht.

Die einzelnen gestempelten südgallischen Sigillataformen wurden in mehreren Formaten produziert, wobei sich innerhalb der Formen unterschiedlich viele Größenvarianten beobachten lassen. Wahrscheinlich sind die Teller in zwei Größen hergestellt worden. Bei den Platten gibt es vier Größen, und bei den Schüsseln Drag. 29 mindestens sieben. Bei den Tassen wurden die Formen Ritt. 5, Drag. 24/25 und 27(g) in drei Größen hergestellt, Ritt. 8 und 9 sowie Drag. 33(a/b) vermutlich in sechs oder mehr.

Die Abmessungen der verschiedenen Formen haben sich im Laufe des 1. Jahrhunderts ebenso geändert wie die Profile. Die großen Teller sind deutlich höher geworden, und ihre Standringe wurden niedriger. Die kleinen Teller könnten eine gleichartige Entwicklung durchgemacht haben. Äußerlich bei den Tellern am besten zu erkennen ist die Reduzierung der Rillen an der Bodeninnenseite. Bei Tellern aus der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts ist hier oft eine doppelte Rille vorhanden. Bei Exemplaren aus der Zeit nach ca. 60 n. Chr. trifft man dagegen nur noch eine einzige Rille an.

Das Studium der Größenentwicklung bei den Platten wird durch ihre Seltenheit erschwert. Die kleinen und mittelgroßen Exemplare scheinen wie die großen Teller mit der Zeit höher geworden zu sein. Ob dies auch für die großen und sehr großen Platten gilt, ist noch unklar. Das Profil der Platten scheint sich nur wenig verändert zu haben. Sie zeigen auf der Bodeninnenseite normalerweise zwei konzentrische Kreise: ein Riefelband und zur Mitte hin eine einzelne Rille. Bei den ältesten Platten fehlt sie aber manchmal. Eine doppelte Rille an dieser Stelle tritt nur selten auf.

Tassen der Typen Ritt. 8, Ritt. 9 und Drag. 33(a/b) treten so selten auf, daß es fast unmöglich ist zu ermitteln, inwieweit sich ihre Abmessungen oder Profile geändert haben. Die Tasse Drag. 33(a) könnte im Verhältnis zum Durchmesser mit der Zeit niedriger geworden sein, und der Standring dieses Typs scheint die gleiche Entwicklung durchlaufen zu haben wie der Standring der Teller.

Die kleinen Tassen der Typen Ritt. 5 und Drag. 24/25 und 27(g) sind größer und höher geworden, die der mittleren Größen dagegen kleiner und niedriger. Deshalb ist bei Exemplaren aus der Zeit nach ca. 70 n. Chr. der Unterschied zwischen kleinen und mittelgroßen Stücken manchmal schwer festzustellen. Die großen Exemplare sind so selten, daß es unklar ist, ob sie sich ebenfalls geändert haben. Die wichtigste Veränderung hat die Tasse Drag. 27(g) erfahren. Bei Exemplaren aus der vorflavische Zeit hat man an der Außenseite der Standringe fast ohne Ausnahme eine Rille angebracht, die bei Stücken aus den Jahren nach 70 n. Chr. jedoch immer öfter weggelassen wurde.

Die Zusammenstellung der verschiedenen Größen von Drag. 29 hat ergeben, daß Schüsseln dieses Typs im Laufe der Zeit höher geworden sind, ihre Standringe im Verhältnis dazu kleiner. Daß das ursprünglich halbkugelige Profil allmählich starker gekehlt wurde, wußte man seit längerem. Eine neue Entdeckung ist aber, daß sich - wie bei den Tellern ­ die Anzahl der Rillen auf der Bodeninnenseite geändert hat. Stücke aus der Zeit des Tiberius und des Claudius weisen fast immer eine doppelte Rille auf, während man auf Exemplaren aus dem dritten Viertel des 1. Jahrhunderts sehr viel öfter nur eine einzelne findet; nach ca. 75 n. Chr. scheinen die Töpfer keine Doppelrille mehr angebracht zu haben.

Daß alle gestempelten Formen in wenigen festen Größen produziert worden sind, ist nicht gerade eine überraschende Schlußfolgerung, denn nur durch eine weitgehende Standardisierung konnte man jährlich hunderttausende von Sigillatagefäßen herstellen. Daß die Töpfer aus La Graufesenque bei der Produktion mit bestimmten Normen gearbeitet haben, ergibt sich aus den vor Ort gefundenen, auf Sigillaten eingeritzten sog. `Töpferrechnungen' ­ Listen, die die Zusammenstellung einer Ofenladung nennen. In diesen Verzeichnissen werden Töpfernamen, Keramikformen, Formate und Mengen aufgelistet. Die erwähnten Formate ­ ausgedrückt in römischen Fuß oder Teilen davon ­ stimmen aber nicht mit denen der Sigillaten aus Vechten überein. Offenbar beziehen sich die in den Verzeichnissen aufgelisteten Größen auf ungebrannte Gefäße. Nimmt man eine durchschnittliche Schrumpfung von 15 bis 19% an, könnten kleine Tassen der Formen Ritt. 5, Drag. 24/25 und Drag. 27(g) vor dem Brennen 1/3 Fuß groß gewesen sein. Mittelgroße Tassen dieser Formen sowie kleine Teller maßen demnach 1/2 Fuß, große Teller 2/3 Fuß und mittelgroße Platten 1 Fuß.

Die Standardisierung der Produktion ist keine südgallische Erfindung, sondern ein schon in den italischen Töpfereien angewandtes Verfahren. Auch bei den arretinischen Sigillataformen kann man verschiedene Formate erkennen, die aber normalerweise etwas größer als die südgallischen sind. Die Ursache dieser Erscheinung lag wohl im größer werdenden Schrumpungsfaktor, der seinerseits die Folge einer erhöhten Brenntemperatur und einer schnelleren Produktion gewesen sein könnte.

7 Die Produktionsorganisation

Weil die Produktion von Terra Sigillata in La Graufesenque nicht in der antiken Literatur erwähnt wird, ist man für die Erforschung der Produktionsorganisation auf die Befunde in La Graufesenque sowie auf die dort hergestellte Keramik angewiesen. Über die Struktur des Töpferzentrums ist noch so gut wie nichts bekannt. Der einzige sichere Hinweis scheint zu sein, daß zumindest ein Teil der Siedlung um 60 n. Chr. umgebaut worden ist, wobei Wohngebäude durch Werkstätten ersetzt worden sind.

Mehr Informationen können aus den `Töpferrechnungen' aus La Graufesenque gewonnen werden. Auf 47 der über 160 bisher publizierten Exemplare kommen mindestens zwei Töpfernamen vor. Diese Verzeichnisse können in drei Gruppen unterteilt werden, die jeweils mit einigen gemeinsamen Namen miteinander verbunden sind. Die erste Gruppe datiert in das dritte Viertel des 1. Jahrhunderts, die zweite in die spätneronische und flavische Zeit, und die dritte ungefähr in das Ende des 1. Jahrhunderts.

Die Listen scheinen von den Töpfern aufgeschrieben worden zu sein, deren Bodenstempel sich auf den Gefäßen befunden haben, die als Schreibgrund dienten. Es ist anzunehmen, daß diese Personen für die in diesen Dokumenten festgehaltenen Ofenladungen verantwortlich waren. Die aufgelisteten Gefäße scheinen in der Mehrzahl von anderen Herstellern angeliefert worden zu sein, die ihre Produkte nicht selbst brannten.

In der Zusammenstellung der einzelnen Ofenladungen sind einige klare Muster erkennbar. Sie lassen vermuten, daß jeder Brennmeister bei der Beschickung seines Ofens mit festen Schemata arbeitete. Auf den ersten Blick könnte man aus der Kombination von Namen und Formen in den Listen ableiten, daß gewisse Hersteller auf bestimmte Formen spezialisiert waren. Es wäre aber auch möglich, daß sie ihre Pro

Eine Analyse der in Vechten gefundenen Sigillatastempel zeigt, daß es eine Beziehung zwischen der Gefäßemenge, mit der ein Töpfer vertreten ist, und seinem Stempeltext gibt. Von Produzenten mit vielen officina-Stempeln sind erheblich mehr Gefäße gefunden worden als von Töpfern mit anderen Stempeltypen. Allem Anschein nach wurde die Bezeichnung officina also nicht willkürlich benutzt, sondern deutet auf eine große Produktions-Einheit hin.

>Die Anzahl von officina-Stempeln hat im Laufe des 1. Jahrhunderts stark zugenommen, vor allem auf Kosten der fecit­ und manus-Stempel. Da officina-Stempel häufiger auf Tellern und Platten als auf anderen Formen vorkommen, könnte diese Entwicklung eine Folge der schon erwähnten Mengenzunahme von Tellern und Platten sein. Eine genauere Analyse zeigt aber, daß bei allen Formen dieselbe Tendenz vorliegt. Offensichtlich wurde die Sigillataproduktion in La Graufesenque in zunehmendem Maße auf große Werkstätten konzentriert.

Die Analyse der von einzelnen Töpfern hergestellten Formen hat die Annahme, daß die Fabrikanten aus La Graufesenque oft auf bestimmte Formen spezialisiert waren, nicht gestützt. Da Schüsseln und Platten in Vechten verhältnismäßig selten vorkommen, überrascht es nicht, daß von gewissen Töpfern nur Teller und Tassen gefunden worden sind. Die Mengenunterschiede bei Tellern und Tassen pro Fabrikant sind weniger auf dessen Spezialisierung zurückzuführen als auf ein sich in Vechten allmählich änderndes Verhältnis von Tellern zu Tassen.

>Die Herstellung der reliefverzierten Schüsseln Drag. 29 verlangte weniger Spezialwissen, als die große Anzahl von fecit­ und manus-Stempeln auf dieser Gefäßform vermuten läßt. In den meisten Werkstätten werden wohl Schüsseln dieses Typs hergestellt worden sein. Anders sah es mit der Produktion von Formschüsseln aus. Ein Vergleich zwischen den ­ manchmal signierten ­ Dekorationen der Schüsseln Drag. 29 und den dazugehörigen Bodenstempeln zeigt, daß zwar gewisse Sigillatafabrikanten ihre eigenen Formschüsseln

hergestellt haben, daß die meisten aber ihre Formschüsseln von darauf spezialisierten Produzenten bezogen haben.

In großen Werkstätten scheinen die Aufgaben manchmal eindeutig verteilt gewesen zu sein. Die verschiedenen Stempel von Bassus i z.B. finden sich meistens nur auf einer Grundform. Auf Grund der Kombinationen von Stempeln und Formen kann man vermuten, daß die Herstellung von Platten und Reliefschüsseln Drag. 29 meist den erfahrenen Arbeitern vorbehalten blieb. Auszubildende Töpfer durften vielleicht nur Tassen herstellen, und erst danach Teller. Da bei den ältesten großen Werkstätten ­ die von Acutus, Bilicatus, Cantus und Scottius ­ Hinweise auf eine solche Arbeitsteilung fehlen, liegt die Annahme auf der Hand, daß diese Produktionsumstellung erst nach der Mitte des 1. Jahrhunderts durchgeführt wurde ­ vielleicht im Rahmen einer allgemeinen Umgestaltung der Produktion, von der der Umbau um 60 n. Chr. ein Echo gewesen sein könnte.

8 Katalog

Der Katalog der gestempelten südgallischen Terra Sigillata aus Vechten umfaßt 4797 Stempel. Die 4013 bestimmten Stempel sind nach den Fabrikantennamen geordnet. Abdrücke derselben Punze sind unter einer Nummer zusammengefaßt worden, die aus dem Anfangsbuchstaben des jeweiligen Töpfernamens und einer Ziffer besteht (A1­V96). Unter den nicht bestimmten Stempeln befinden sich 102 Fragmente, die wahrscheinlich von Namenstempeln stammen (X1­101), 567 Schriftimitationen und andere unleserliche Stempel (Y1­376) sowie 115 Fragmente solcher Stempel (Z1­115).

Jeder Katalognummer folgt ­ wenn möglich ­ der Text des betreffenden Stempels, die Angabe auf welchen Formen er in Vechten angetroffen worden ist, die zugehörigen Fund­ und Inventarnummern sowie die Herkunft und Datierung des Stempels. Meistens ist außerdem ein kurzer Kommentar angefügt, der sich vor allem auf die Datierung bezieht.

Die im Katalog angeführten Parallelen sind größtenteils dem in Leeds befindlichen Archiv von B.R. Hartley und B.M. Dickinson entnommen. Die im Kommentar erwähnten datierten Fundkomplexe werden in Beilage D kurz besprochen. Wenn ein Stempel nicht aus einem datierten Kontext bekannt ist, stützt sich die Datierung meistens auf die Abmessungen und/oder die Profile der Gefäße, auf denen er sich befindet, d.h. auf die Entwicklung der Sigillataformen, so wie sie in Kapitel 6.3 geschildert worden ist.

9 Impressum

Tekst: M. Polak, Übersetzung und WWW-Layout: A.W. Mees und B. Pferdehirt

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